Ministerin Scharrenbach: Gutachter empfiehlt zum jetzigen Zeitpunkt keine Wiedereinführung der Sperrklausel bei Wahlen zu den Gemeinderäten und Kreistagen
Das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung teilt mit:
Ministerin Ina Scharrenbach: „Bei der Kommunalwahl am 13. September 2020 wird es eine 2,5-prozentige Sperrklausel für die Wahlen zur Regionalversammlung Ruhr und bei den Wahlen zu den Bezirksvertretungen in den kreisfreien Städten geben. Eine Wiedereinführung der Sperrklausel für die Wahlen zu Stadträten und Kreistagen wird die Landesregierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht vortragen. Dies bedauere ich persönlich, denn die Zersplitterung der Räte fordert die kommunale Selbstverwaltung heraus. Allerdings konnte der von der Landesregierung beauftragte Gutachter Funktionsstörungen in der Breite im Sinne des Verfassungsgerichtshofes Nordrhein-Westfalen nicht feststellen.“
Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen (VerfGH NRW ) hatte am 21. November 2017 in sieben Organstreitverfahren jeweils durch Urteil festgestellt, dass sowohl die verfassungsunmittelbare als auch die einfachgesetzliche 2,5-prozentige Sperrklausel für Kommunalwahlen gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verstößt, soweit sie für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage gilt. Der VerfGH NRW hatte seine Urteile darauf gestützt, dass der Verfassungsgesetzgeber im Jahr 2016 seine Prognose drohender Funktionsstörungen der Gemeinderäte und Kreistage nicht hinreichend begründet habe. Es sei jedoch prinzipiell denkbar, dass der Landtag nach erneuter Befassung auf der Grundlage einer neuen und tragfähigen Begründung an der Sperrklausel festhalte (Pressemitteilung des VerfGH NRW vom 21. November 2017 unter Nummer 9).
Das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen hat einen Gutachter beauftragt, vor dem Hintergrund des Urteils des VerfGH NRW und der langjährigen Diskussion um die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit einer Sperrklausel für die Wahlen zu kommunalen Räten und Kreistagen, die Arbeitsweise der Räte und Kreistage mit Blick auf deren Funktionsfähigkeit zu untersuchen.
Der Gutachter kommt zu dem Ergebnis, dass die
„[…] aufgezeigten Befunde [..] vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des VerfGH ein differenziertes Bild [zeichnen]. Einerseits kann momentan von verbreiteten Funktionsstörungen im Sinne des VerfGH nicht gesprochen werden. Liegen solche in Ansätzen vor, sind sie meist nicht durch die Abwesenheit der Sperrklausel kausal ableitbar. Insofern kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter der Güterabwägung des VerfGH eine Wiedereinführung einer Sperrklausel wenig erfolgsversprechend ist. […] Sollten nach der Kommunalwahl 2020 tatsächlich verstärkte Funktionsstörungen auftreten und nachgewiesen werden, kann also neu über eine Wiedereinführung der Sperrklausel nachgedacht werden. […]“
Jedoch konstatiert das Gutachten:
„[…] Auf der anderen Seite lassen sich zahlreiche Auswirkungen der Fragmentierung beobachten, die zu einer Mehrbelastung der Verwaltung und der Rats- bzw. Kreistagsmitglieder selbst führen, die zwar nicht die Entscheidungsfähigkeit im Ganzen in Frage stellen, aber das kommunalpolitische Ehrenamt als zunehmend unattraktiv erscheinen lassen. Längere und vermehrte Sitzungen, langwierige Diskussionen, die nicht zu substantiellen Verbesserungen im Ergebnis führen, und überforderte Einzelmandatsträger mögen als „Kosten der Demokratie“ in Kauf genommen werden können. Zu einer höheren Demokratiequalität tragen sie nicht bei.
Die Urteile des VerfGH konzentrieren sich mit der Wahl- und Chancengleichheit auf nur einen Ausschnitt der demokratischen Wirklichkeit, die normativ aber nicht nur das Gewähltwerden(können) sondern auch die gemein-wohlorientierte Mitgestaltung in der kommunalen Selbstverwaltung umfasst. Letztere ist eben kein reiner Parlamentarismus, sondern ist getragen vom Selbstverwaltungsgedanken, mithin der Verantwortungsübernahme der Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwesen. Unter Berücksichtigung alternativer Gütekriterien an lokale Demokratie (vgl. Ladner/Bühlmann 2007) wäre also eine Sperrklausel ein durchaus probates Mittel zur Verbesserung der Demokratiequalität (vgl. Bull 2014; Mehde 2018).
Solange sich die Rechtsprechung aber an der gegenwärtigen Priorisierung orientiert, bleibt als Fazit nur die Empfehlung, eine Wiedereinführung der Sperrklausel momentan nicht anzugehen. […]“
Hintergrund:
- Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen hat am 21. November 2017 in sieben Organstreitverfahren jeweils durch Urteil festgestellt, dass sowohl die verfassungsunmittelbare als auch die einfachgesetzliche 2,5-Prozent-Sperrklausel für Kommunalwahlen gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Artikel 69 Absatz 1 Satz 2 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit Artikel 28 Absatz 1 Satz 2 GG) verstößt, soweit sie für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage gilt.
- Demgegenüber sei diese Sperrklausel mit dem Verfassungsrecht vereinbar, soweit die Wahlen der Bezirksvertretungen und der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr betroffen sind: Die Sperrklausel in Höhe von 2,5 Prozent ist nach dem geltenden Kommunalwahlgesetz nur noch für die Wahl der Bezirksvertretungen und der Verbandsversammlung des Regionalverbands Ruhr vorgesehen (§§ 33, 46a, 46j KWahlG).
- Die 2,5-Prozent-Sperrklausel bei Kommunalwahlen war durch das Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen und wahlrechtlicher Vorschriften vom 14. Juni 2016 eingefügt worden. Nach dem Wortlaut sollte sie sich auf die Wahlen von Gemeinderäten, Bezirksvertretungen, Kreistagen und der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr beziehen.
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